22.11.2023

Bundesverfassungsgericht übt Kritik an Sozialgericht: „Belastungsgrenze“ für Heimbewohnerin zu hoch (1 BvR 422/23)

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 03.11.2023 einen Beschluss vom 22.09.2023 veröffentlicht, mit dem es der Verfassungsbeschwerde einer Heimbewohnerin stattgegeben hat. Es ging um die Höhe der Belastungsgrenze für Zuzahlungen bei Leistungen der Krankenkasse.

1.

Die 85 Jahre alte Beschwerdeführerin des Verfahrens lebt seit Juli 2021 in einem Pflegeheim. Entsprechend ihrem Pflegegrad erhielt sie für die Heimkosten pauschale Leistungen der Pflegekasse. Da diese Leistungen zusammen mit ihrer Rente von 1.100,37 € monatlich zur Bestreitung der Heimkosten nicht ausreichten, wurde ihr zusätzlich Sozialhilfe als Hilfe zur Pflege bewilligt.

Den Großteil der Rente zahlte sie direkt ans Heim.  Von der Rente verblieben ihr monatlich zur persönlichen Verfügung ein Barbetrag („Taschengeld“) von 120,42 € und als Pauschale zur Anschaffung von Kleidung ein Betrag von 23,50 €.

2.

Wenn sie Leistungen der Krankenkasse in Anspruch nahm – etwa Medikamente oder Physiotherapie -, musste sie hierfür Zuzahlungen leisten.

a) Für diese Zuzahlungen, die grundsätzlich alle volljährigen Krankenversicherten zu erbringen haben, gibt es nach § 62 SGB V Belastungsgrenzen. Sind sie überschritten, tritt auf Antrag bei der Krankenkasse eine Befreiung von Zuzahlungen ein.

  • Die Belastungsgrenze beträgt grds. 2 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. (Leben Angehörige in einem gemeinsamen Haushalt, gibt es dafür Sonderregelungen.)
  • Für chronisch kranke Menschen gilt ein Satz von 1 % der jährlichen Bruttoeinnahmen. *) 

Nicht immer wird auf die Bruttoeinnahmen abgestellt. Wer etwa Hilfe zum Lebensunterhalt bekommt oder wessen Heimkosten von einem Sozialhilfeträger getragen werden, dessen Belastungsgrenze ist bereits bei einem Betrag von 2 % bzw. (bei chronisch Kranken) von 1 % des Regelsatzes der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII erreicht. Um die Anwendung dieser Regelung wurde im vorliegenden Fall gestritten. 

b) Die Krankenkasse hatte für das Jahr 2022 für die Belastungsgrenze die chronische Erkrankung bejaht – ging also von 1 % aus – und die Rente in Höhe von 13.204,44 € (12 x 1.100,37 €) zu Grunde gelegt.

1 % hiervon sind 132,04 €.

Als Belastungsgrenze auf Grund der Rente wurde dem entsprechend ein Betrag von 132,04 € festgesetzt. Erst wenn die Zuzahlungen des Jahres diesen Betrag überschritten, sollte die Beschwerdeführerin von weiteren Zuzahlungen befreit sein. Vor einer Befreiung hätte sie also mehr als einen ganzen Monat „Taschengeld“ für Zuzahlungen aufwenden müssen.

Wäre statt der Rente der Regelsatz der Regelbedarfsstufe 1 angesetzt worden – das war 2022 ein Betrag von 5.388,00 € (12 x 449,00 €) – hätte die Belastungsgrenze lediglich 53,88 € betragen. **)

c) Diese niedrigere Belastungsgrenze versuchte die Beschwerdeführerin durchzusetzen, zunächst in einem Widerspruchsverfahren gegen die Krankenkasse, dann in einem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Osnabrück. Dieses Gericht wies die Klage ab (Gerichtsbescheid vom 22.06.2022). Das Landessozialgericht Niedersachsen Bremen wies die Nichtzulassungsbeschwerde hiergegen ab, weil die grundsätzliche Bedeutung der Sache nicht ausreichend dargelegt sei (Beschluss vom 31.01.2023).

Dagegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde.

3.

Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.09.2023 (1 BvR 422/23) hätte unzweifelhaft die begehrte niedrigere Belastungsgrenze, bemessen nach dem Regelsatz, festgesetzt werden müssen.

Grundlage ist § 62 Abs. 2 SGB V. Nach dieser Vorschrift ist statt des tatsächlichen Bruttoeinkommens für die Bestimmung der Belastungsgrenze der Regelsatz bei (unter anderem) den Krankenversicherten maßgeblich,

1. die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ oder „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ erhalten 

    oder

2. bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim von einem Träger der Sozialhilfe getragen werden.

Die erstgenannten Leistungen erhielt die Beschwerdeführerin nicht, weil ihre Rente für diesen Teil ihres Bedarfs ausreichte. (Dass ihr vom Sozialhilfeträger das „Taschengeld“ und die Bekleidungspauschale belassen wurde, ist sozusagen noch Rentenbestandteil zur eigenen Verfügung. Als Leistung des Sozialhilfeträgers zum Lebensunterhalt bzw. als Grundsicherung lässt sich das nicht ansehen. Diesen Punkt hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt.

Mit Blick auf die zweite Variante war das Sozialgericht wie schon die Krankenkasse der Auffassung, sie sei für die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht einschlägig: Von einer Kostentragung durch den Sozialhilfeträger könne nur die Rede sein, wenn dieser (anders als bei der Beschwerdeführerin) auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung im Heim – und nicht nur die Kosten der Pflege - trage.

Das Bundesverfassungsgericht sah für eine solche einschränkende Auslegung keinen Ansatzpunkt, schon weil dann die erste Variante als gesetzliche Regelung genügt hätte; die zweite hätte keinen eigenständigen Inhalt und liefe leer.

Mit klaren Worten kritisiert das Bundesverfassungsgericht das Sozialgericht Osnabrück:  

„Der angegriffene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.“

Die vom Sozialgericht getroffene Entscheidung stelle nicht nur eine unrichtige Rechtsanwendung dar, sondern lasse es an der Anwendung juristischer Auslegungsmethoden fehlen, entbehre so jeder nachvollziehbaren Grundlage und widerspreche auch offensichtlich der gesetzgeberischen Konzeption. 

4.

Dass es überhaupt zu einem solchen Streit kommen konnte, hängt sicher auch damit zusammen, dass die Erbringung von Sozialleistungen für einen Heimaufenthalt verschachtelt und wenig transparent geregelt ist.

a) Primärer Leistungsträger sind die Pflegekassen. Je nach Pflegegrad zahlen sie bei stationärer Unterbringung pauschale Beträge. Diese sind für die eigentlichen Pflegekosten in den Einrichtungen gedacht. Sie reichen jedoch nicht aus, die vollen Pflegekosten zu decken.

Die darüber hinaus gehenden Pflegekosten müssen Heime ihren Bewohner:innen seit einigen Jahren so berechnen, dass die Bewohner:innen aller Pflegegrade im jeweiligen Heim dadurch in gleicher Höhe belastet werden („einrichtungseinheitlicher Eigenanteil“).

Zur Entlastung hinsichtlich dieses Eigenanteils gibt es noch einen Zuschuss der Pflegekasse: den „Leistungszuschlag“. Er steigt mit der Dauer der Pflege in der Einrichtung. Im ersten Jahr des Heimaufenthalts beträgt der Prozentsatz 5 %, im zweiten Jahr 25 %, im dritten Jahr 45 % und ab dem vierten Jahr 70 %.

Neben den eigentlichen Pflegekosten rechnen Heime aber natürlich auch Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Reinigung, Energie usw. ab. Und ferner dürfen sie in ihren Verträgen mit den Heimbewohner:innen Investitionskosten ansetzen sowie Ausbildungsvergütungen, die für Auszubildende in der Pflege anfallen. Hierfür sind die Pflegekassen grundsätzlich (mit einer nebensächlichen Ausnahme) nicht eintrittspflichtig.

Es zeigt sich also, dass eine erhebliche Eigenbelastung von Heimbewohner:innen verbleiben kann.

b) Wer diese Eigenbelastung aus eigenem Einkommen und Vermögen (oder unter bestimmten Umständen aus den Mitteln der Familie) nicht tragen kann, erhält Sozialhilfe. Diese ist anders als die Pflegekassen nicht auf die eigentlichen Pflegekosten beschränkt.

In der Sozialhilfe gibt es aber (generell, auch außerhalb von Einrichtungen) unterschiedliche Leistungsarten:

  • einerseits Leistungen zum Unterhalt, die jeder Mensch zum Leben braucht (Unterkunft, Heizung, Essen, Kleidung, Körperpflege): „Hilfe zum Lebensunterhalt“ und „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
  • andererseits Leistungen für besondere Bedarfe in besonderen Lebenssituationen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit: „Hilfe zur Pflege“, „Hilfen zur Gesundheit“, „Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ u.a.

Es geht dabei nicht nur um eine unterschiedliche Benennung der Hilfen. Für unterschiedliche Leistungsarten gibt es auch unterschiedliche Voraussetzungen. So ist z. B. das „Schonvermögen“ bei Leistungen zum Lebensunterhalt deutlich geringer als bei Leistungen in den besonderen Lebenssituationen, bei denen auch der Einsatz des eigenen Einkommens „großzügiger“ geregelt ist. Auch die Möglichkeit der Heranziehung von Familienangehörigen zu den Kosten unterscheidet sich.

Bei Heimaufenthalten ist es insofern noch etwas komplizierter, als die Leistungsarten teilweise miteinander verquickt sind: Ein Teil des Lebensunterhalts wird durch das Heim erbracht (Unterkunft, Verpflegung usw.); einen anderen Teil (insbesondere Kleidung, aber auch Dinge des täglichen Lebens wie Friseur, Genussmittel, kulturelle Ansprüche) beschaffen sich Heimbewohner:innen selbst. Außerdem benötigen sie weitere Leistungen für besondere Lagen wie etwa Leistungen der Krankenkasse. Dass Ansprüche gegen diese wiederum teilweise auf gesetzliche Regelungen zur Sozialhilfe Bezug nehmen, war aus dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ersichtlich.

Es ist daher durchaus wichtig, rechtliche Klarheit über die zur Verfügung stehenden Sozialleistungen und die jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen zu gewinnen.

c) Die Beschwerdeführerin im entschiedenen Fall hatte keinen Anspruch auf Grundsicherung im Heim, weil ihre Rente für den reinen Unterhaltsanteil (Unterkunft, Verpflegung, Heizung, Reinigung) ausreichte. Dadurch, dass sie die dies übersteigende Rente nicht voll für die Pflegekosten einsetzen musste, sondern ihr davon das „Taschengeld“ und auch eine Bekleidungspauschale belassen wurde, wurden diese Beträge, wie bereits oben ausgeführt, noch nicht zu einer Sozialhilfeleistung zum Unterhalt. Anspruch hatte sie aber auf ergänzende „Hilfe zur Pflege“ durch den Sozialhilfeträger, soweit die Pflegekosten nicht durch Leistungen der Pflegekasse und die eigenen Rentenanteile gedeckt waren. Außerdem konnte sie Leistungen der Krankenkasse in Anspruch nehmen – wofür sie in begrenztem Umfang Zuzahlungen leisten musste.

 __________________________________ 

*) Wer in diesem Sinn als „chronisch krank“ gilt, bestimmt die „Chroniker-Richtlinie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses von Krankenkassen, Kassenärzt:innen und Krankenhausgesellschaft. Dabei kann auch der Pflegegrad 3, 4 oder 5 oder ein GdB von mindestens 60 eine Rolle spielen.

 **) Zurzeit beläuft sich der Regelsatz der Regelbedarfsstufe 1 auf 502,00 €.

Ab 01.01.2024 wird der Regelsatz auf 563,00 € steigen. Durch diese Leistungserhöhung wird auch die Belastungsgrenze steigen, und zwar auf 67,56 €. Allerdings ist nach § 27b SGBXII auch der Barbetrag („Taschengeld“) an den Regelsatz geknüpft; er soll mindestens 27 % davon betragen, also ab 01.01.2024 mindestens 152,01 €.

 

Plagemann Rechtsanwälte

Ansprechpartner:innen: Prof. Frank Ehmann, Dr. Jana Schäfer-Kuczynski

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